In der zeitgenössischen Belletristik lässt sich eine wachsende literarische Präsenz des Islam beobachten: deutschsprachige Autor:innen eröffnen kritisch-aufklärerische Gegendiskurse zu klischeehaften Negativstereotypen über die Religion der Muslime und setzen einen Kontrapunkt zur lange tonangebenden Religionsvergleichgültigung und Transzendenzvergessenheit. Ein Beitrag zur Transkulturalität der Religion in Prosatexten der Gegenwart beim Internationalen Germanistenkongress 2021.
Seit den 1990er Jahren ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine neue plurale Präsenz des Religiösen festzustellen, eine Renaissance von Religion lässt sich daraus m.E. nicht ableiten, „es geht um neue literarische Annäherungen in verändertem Kontext“ (Langenhorst 2014: 340). Mit Jürgen Habermas kann man von einem „postsäkularen“Bewusstseinswandel in der Wahrnehmung von Religion(en) reden, der nicht „als Umkehr säkularer Tendenzen“ zu verstehen ist, vielmehr als ein „verändertes Selbstverständnis der weitgehend säkularisierten Gesellschaften Westeuropas“ (Casanova 2015: 17). Dieses veränderte Selbstverständnis macht sich insbesondere an den Debatten über den Islam fest, schon die Friedenspreisrede von Habermas 2001 stand unter dem Eindruck von Nine Eleven. Seither dominieren Gewalttaten des islamistischen Terrorismus die Aufmerksamkeit, sie prägen ein Negativbild des Islam, der „als das Andere der westlichen Zivilisation zur Geltung gebracht wird“ (Ünalam 2013: 12), was nicht selten mit einer pauschalisierenden „Muslimisierung der Muslime“ (Amirpur 2011) einhergeht. Bedenklich ist nicht die berechtigte Kritik an gewaltsamen Erscheinungsformen des Extremismus als vielmehr die nahezu ausschließliche Konzentration auf solche Phänomene. Übrig bleibt ein angsterfüllt-verzerrtes Feindbild Islam, das die Religion der Muslime ihrer vielfältigen religiös-spirituellen Erfahrung wie ihrer reichen Kultur und Lebensart beraubt.
Der sowohl auf Deutsch als auch Türkisch schreibende Schriftsteller Zafer Şenocak konnte in den letzten 30 Jahren einen höchst aufschlussreichenWandel der Wahrnehmungskategorien beobachten: „Früher war ich ein Schriftsteller, dann war ich ein ‚Gastarbeiterautor‘, später ein ‚türkischer Migrantenautor‘, und heute bin ich ein ‚muslimischer Autor‘.“ (Yesilada 2012: 177; vgl. Gellner 2019) Seit dem 11. September 2001 ist die Diskussion über Migration in weiten Teilen zu einer Debatte über den Islam geworden. Ja, seit der Jahrtausendwende wird die Andersheit türkischer und anderer Einwanderer in erster Linie an ihrer Religion festgemacht – die Muslime werden so als einheitliche Gruppe konstruiert, deren gesamtes Verhalten von ihrer Religion bestimmt werde, unter Ausblendung ihrer individuell höchst unterschiedlichen konfessionellen Positionierung. „Bei Kollektivzuschreibungen geht es nicht um persönliche Lebensgeschichten“, kritisiert Şenocak diese kollektiv-essentialistischenZuschreibungen, „es geht um Bildkompositionen, die dazu dienen, sich von jemandem zu distanzieren, seine Verschiedenheit zu markieren, seine Andersartigkeit zu definieren, indem man ihn in ein Kollektiv einbettet.“ (Şenocak 2011: 149; vgl. Şenocak 2018)
Neue deutsch-muslimische Literatur
Demgegenüber wartet zeitgenössische Literatur mit kritisch-alternativen Gegenerzählungen zu den öffentlich-medialen Diskursen um und über den Islam (vgl. Halm 2008; Saif 2018; Kalwa 2020) auf und setzt einen aufklärerisch-erhellenden Kontrapunkt gegen Ignoranz und Diskriminierung wie zu Negativstereotypen des fundamentalistischen Fanatismus und terroristischer Bedrohung. Ähnlich wie wir seit den 1980/90er Jahren eine Renaissance deutsch-jüdischer Literatur von Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Generation nach der Shoah erleben, die jüdisch-religiöses Leben in der Diaspora beschreiben, ist in den letzten 20 Jahren dank einer wachsenden Zahl Deutsch schreibender Autor:innen mit (trans-) kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten eine stärker werdende literarische Präsenz des Islam in der Gegenwartsliteratur festzustellen (vgl. Gellner/Langenhorst 2013; Gellner 2015; Gellner 2017). Navid Kermani(Dein Name 2011, Grosse Liebe 2014), Zafer Şenocak (Lebenslauf 1995, Das Land hinter den Buchstaben 2006, In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters 2016), Feridun Zaimoğlu(Gottes Krieger 2004, Schwarze Jungfrauen 2006), Ilija Trojanow(Zu den heiligen Quellen des Islam 2004), Mariam Kühsel-Hussaini (Der Gott im Reiskorn 2010), Meral Kureyshi (Elefanten im Garten 2015; vgl. Stauffer 2022) oder Nava Ebrahimi(Sechzehn Wörter 2017, Der Cousin 2021; vgl. Baumgartner 2022) bringen in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur nicht nur einen (post-)migrantischen anderen Zungenschlag ein, sie schreiben ihr auch eindringliche Innensichten gelebten muslimischen Glaubens ein, die islamisches Beten, die Koranrezitation wie das mystisch-rituelle Gottgedenkens (Zikr/Dhikr), die Wallfahrt und das Pilgerritual in Mekka von innen heraus verstehen lassen. Immer wieder ist von der Schönheit Gottes und des Korans die Rede, werden Koransuren oder Sufi-Poesie eingespielt. Im weitgefächerten Spektrum „zwischen der Faszination für religiöse Gehalte, insbesondere für die des Sufismus und der islamischen Mystik, und einer Reflexion über die islamistische Pervertierung der Religion des Korans“ wird der Islam als ein „unhintergehbares Element“ hiesiger Lebenswelten präsent, betont Michael Hofmann, „mit dem die Literatur sich kritisch, aber auch neugierig und aufmerksam auseinandersetzt“ (Hofmann 2017: 59).
Jörg Löffler und Stefan Willer, die 2006 in einer Anthologie deutschsprachiger „Geistlicher Lyrik“ mit Gedichten von Zehra Çirak und Zafer Şenocak auch zwei Beispieltexte von Autoren muslimischer Provenienz präsentierten, ließen offen, ob es „eine deutsch-islamische Dichtung geben wird“ (Löffler, Willer 2006: 226). Dagegen sprechen Georg Langenhorst und ich bewusst von einer neuen deutsch-muslimischen Literatur.Das herausfordernd Neue dieser eben erst entstehenden deutsch-muslimischen Literatur liegt darin, dass der Islam durch Deutsch schreibende Autorinnen und Autoren „mit biografischem Bezug“, ja, „in Teilhabe an und in der Auseinandersetzung mit“ muslimischer Religion und Kultur einen „Bezugsrahmen und Echoraum“ (Weidner 2019:12) erhält. In dieser mitten in Europa entstehenden Literatur überschneiden sich deutsche und muslimische Dimensionen, wobei nicht nur kulturelle, sondern auch religiöse Differenz auf höchst vielfältige Weise literarisch produktiv wird. Von einem „markanten ‚Muslim Turn‘“ (Yesilada 2011: 197) zu sprechen, scheint zwar reichlich übertrieben. Doch bilden Ethno-Etiketten wie deutsch-türkische Literatur oder generalisierende Inter- bzw. Transkulturalitätsmarker die durchaus unterschiedlichen Bezugnahmen auf Religiös-Spirituelles des Islam m.E. nicht hinreichend deutlich ab.
Getragen von ganz unterschiedlicher innerer Zustimmung zum religiösen Glaubensgehalt dient Literatur hier als Medium, um Räume der gesellschaftlichen Zugehörigkeit bei gleichzeitiger religiös-kultureller Verschiedenheit auszuhandeln – sozialisiert „zwischen Koran und Kafka“ feiert Navid Kermani Hölderlin als „Sufi der deutschen Literatur“ (Kermani 2011: 181; vgl. Kermani 2014) und Feridun Zaimoğlu gibt postmigrantisch zu Protokoll, er wolle sichtbar machen, „dass die Nachkommen der Einwanderer weder aus einem Kanon der Ursprungsgesellschaft ihrer Eltern und Grosseltern noch nach den Maßstäben der deutschen Mehrheitsgesellschaft verstanden werden können“ (Tuschick 2000: 107).
Gerade durch die erinnernde Vergegenwärtigung gläubiger Eltern, Großeltern und Verwandten bringen sie Gegenbeispiele aufgeklärt-islamischer Religiosität jenseits von Säkularismus und Islamismus in den hiesigen Islam-Diskurs ein. Nicht wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller verbinden das literarische Erzählen gekonnt mit Essays, Reden und Vorträgen und erweitern so ihre Möglichkeiten, augenöffnende Gegensignale zu einseitig-verzerrten Bildern zeitgenössischen Muslimseins zu setzen und kritisch-aufklärerische Gegendiskurse zu klischeehaften Negativstereotypen des Islam zu eröffnen. Literatur fungiert hier „als privilegierter Ort der Reflexion über Diskurse des Eigenen und des Fremden“, wobei die „Diskussionen um den Islam als dem heimisch werdenden Fremden“ sowie das Verhältnis von Religion und Säkularität „das kulturelle Selbstverständnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft“ und damit „auch die Diskussion um die deutsche und die christliche Identität beeinflussen“ (Hofmann, Stosch 2012: 9).
Zur deutlicheren Sichtbarkeit muslimischer Religiosität in der Gegenwartsliteratur tragen auch Prosatexte christlich sozialisierter Autorinnen und Autoren wie Barbara Frischmuth, Christoph Peters, Michael Kleeberg oder Angelika Overath bei. Ohne eigene biografische Prägung und religiös-kulturelle Zugehörigkeit zum Islam zählen sie zwar nicht zur deutsch-muslimischen Literatur im engeren Sinn, mit ihrer engagierten Teilnahme am vielstimmigen literarischen Islamdiskurs fokussieren sie jedoch die neue postsäkulare Aufmerksamkeit für Religiös-Spirituelles auf die zunehmende Inter-, ja, Transkulturalität der Religion.
Als profunde Islamkennerin macht Barbara Frischmuth in ihrem Roman Die Schrift des Freundes (1998) die zentrale Rolle der Kalligrafie als herausragendem künstlerischen Ausdruck muslimischer Spiritualität erlebbar. Mit den dem mystisch-anatolischen Volksislam entstammenden Aleviten vergegenwärtigt sie eine moderne Spielart heutigen Muslimseins inmitten von Europa. Selber weder Muslimin noch praktizierende Christin rückt die österreichische Autorin Spielarten muslimischer Frauenemanzipation sowie religionsverschiedene Paar- und Familienkonstellationen in den Fokus. So wie Angelika Overaths Roman Ein Winter in Istanbul (2018) Berührungen zwischen christlicher und islamischer Mystik thematisiert, gilt auch Christoph Peters’ Faszination den Sufis, von ihnen handelt sein Erzählband Selfie mit Sheikh (2017), der auf dem Hintergrund mehrerer Reisen u.a. nach Ägypten, Saudi-Arabien, Pakistan und in die Türkei luzide Gegenerzählungen zu vorherrschenden Islam-Narrativen bietet. Gewidmet ist der Band Sheikh Eşref Efendi, Sufimeister des Naqshbandiyya-Ordens, „ohne den ich noch immer glauben würde, ich verstünde irgendetwas“ (Peters 2017: 5). Über muslimische Poesie, Musik und mystische Spiritualität hinaus entfaltet Michael Kleebergs neuer westöstlicher Divan-Roman Der Idiot des 21. Jahrhunderts (2018) ein Kaleidoskop vielstimmiger Islamwahrnehmungen und stimmt gegen identitäre Versuchungen heute programmatisch ein Lob der Konvivialität an (vgl. Gellner 2019).
Komplexes Diskursgeflecht: Islam, Migration und Religion
Weiterführend ist m.E. daher ein diskursanalytischer Fokus auf die transkulturellen Verflechtungen von Religion, Modernität und Säkularisierung. Im Anschluss an Michel Foucault, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe spricht Ludmila Peters von Religion als diskursiver Formation (Peters 2021) und betont, die aktuellen Diskurse um Religion, Säkularisierung und Moderne können nicht mehr nur in einem westlich-christlichen Kontext geführt werden, vielmehr müssen sie transkulturell angegangen werden (Peters 2016: 17f.; vgl. Welsch 2012). Mit Blick auf Patrick Roth, Benjamin Stein und Navid Kermani könne man nicht nur eine verstärkte Darstellung von Religion in der Gegenwartsliteratur beobachten, zugleich agiere und engagiere sie sich ästhetisch-fiktional bzw. essayistisch-reflexiv als Akteurin im aktuellen Diskurs über Religion.
Für eine diskurstheoretische Fundierung der Religionswissenschaft macht sich u.a. Frank Neubert stark, der schon im Titel seiner Berner Habilitationsschrift von der diskursiven Konstitution von Religion (Neubert 2016) spricht. Damit rückt er die Aushandlungsprozesse religiöser Kommunikation in den Fokus, durch die sich Religion(en) im fortwährenden Streit um Interpretation und Deutungsmacht immer neu konstituieren. Bezogen auf den Islam verweisen Paula Schrode und Floris Biskamp auf den Kulturanthropologen Talal Asad, der vom Islam als einer diskursiven Tradition spricht (Schrode 2016), deren normativen Bezugsrahmen Koran und Hadithüberlieferung bilden, wobei in der Vielzahl religiöser Traditionslinien auch Narrative wie das für den schiitischen Islam zentrale Martyrium Alis zu nennen sind. Muslime und Musliminnen in westlichen Gesellschaften sind nicht nur in solche Debatten der islamischen Diskursgemeinschaft, sondern zugleich auch in gesamtgesellschaftliche Diskurse über Religion, Migration und Islam und damit verbundene mehrheitsgesellschaftliche Zuschreibungen involviert (Biskamp 2016: 105f.).
Literarische Beispiele? Zaimoğlus Kanak Sprak (1995) und Koppstoff (1998), schrille Sprachporträts junger Deutschtürk:innen der zweiten und dritten Einwanderergeneration, inszenieren die trotzig-subversive Selbstbehauptung gegen die Diskriminierung der ausgrenzenden Mehrheitsgesellschaft wie die Selbstmarginalisierung ihrer migrantischen Eltern. Ihre mehrsprachige Gegen-Rede, die immer wieder den türkischen Begriff merhamet, Erbarmen, ins Spiel bringt und auf der Basis des islamischen Ethos Gerechtigkeit einklagt (Yesilada 2012: 183), unterläuft die verletzende Hate Speech des rassistischen Diskurses ebenso wie die Integrationsbemühungen multikultureller Sozialarbeiter und nimmt damit „eine in forcierter Weise postmigrantische Position ein“ (Wagner-Jochum 2019: 127). Noch deutlicher sind die Theatermonologe gläubiger Musliminnen in Schwarze Jungfrauen (2006) ein dezidierter „Gegendiskurs“ (Ünalam 2013: 118) zu gängigen muslimischen Identitätszuweisungen – als provozierendes Spiel mit Klischees und Gesellschaftsdiskursen über Islam und Religion, Körper und Geschlecht: „Ich weiß doch, dass ich Zumutung gegen Vermutung setze, ihr glaubt zu wissen, wer ich bin, und ich spreche dagegen an“. Entscheidend ist, dass alle Figuren des Stücks eine selbstbestimmte Beziehung zu ihrer Religion haben: „Ich trage kein Mumientuch, ich bin nicht wie sagt man? … enthaltsam […] Mein Glaube ist nicht angelesen, ich lese das Heilige Buch, das stimmt, nur, ich folge meiner eigenen Intuition.“ Die für Zaimoğlu typische Brechung gewohnter Perspektiven fördert ganz individuelle Islamisierungsprozesse, ja, divers-plurale Identitätskonstruktionen zu Tage: „Den neuen Glauben habe ich in Eigenregie verarbeitet“, bekennt eine „deutsche Muslima, „die Tochter einer kreuzkatholischen Frau“: „Vielleicht wird auch meine Mutter einsehen, dass Allah kein Ausländer ist.“ (Zaimoğlu, Senkel 2013: 47-48, 37-38, 67-68)
Zwischen existentiell affirmierter Religiosität und kultureller Prägung artikuliert sich so ein weitgefächertes Spektrum muslimischer Stimmen. So wie sich am vielstimmigen deutsch-jüdischen Diskurs Autorinnen und Autoren beteiligen, die nicht dezidiert religiös sein müssen, um sich öffentlich als Juden zu artikulieren, liegen etwa von SAID oder Sherko Fatah Wortmeldungen von Muslimen vor, die sich nicht als gläubig verstehen; in der Deutschen Islam Konferenz hatten diese säkularen Muslime eine eigene Vertretung. Der Deutsch-Iraner SAID machte in seinen Psalmen (2007) ganz in der mystisch-libertären Poesietradition eines Hafis die Schönheit zum Zugang zu Gott. Als Ausdruck einer überkonfessionellen Spiritualität schreiben seine „renitenten gebete“ Bibelpoesie und moderne Psalmdichtung in muslimischem Geist fort (vgl. Gellner 2014).
Wie in der deutsch-jüdischen sind in der deutsch-muslimischen Literatur keinesfalls nur Identifikation und Bestätigung zu erwarten, vielmehr produktive Spannungen, Auseinandersetzungen, Traditionsbrüche und Transformationen. Zu rechnen ist mit höchst vielfältigen Spielarten des Religiösen, ja, mit einer „irreduziblen Viel- und Mehrdeutigkeit“ (Kilcher 2012: XXVf.). Statt Kollektivzuschreibungen sind subjektive Lesarten und individuelle Selbstpositionierungen singulärer Autorinnen und Autoren mit ganz verschiedenen biografischen Hintergründen und eigenständigen Schreibweisen in den Blick zu nehmen. Ihre literarischen Anknüpfungen an Motiv- oder Sprachimpulse, an Denkformen und Themen der vielgestaltigen Lebens- und Glaubenswelten des Islam, den Koran, die islamische Theologie- und Spiritualitätsgeschichte wie die von ihr geprägte Dichtung und Poesie. Gezielte Aufmerksamkeit gilt ihren ästhetisch-narrativen Darstellungsverfahren, der Verbindung von Inhalt und Form, Ästhetik und Semantik. „Auch wo ihre Motive religiös sind, ist Literatur niemals repräsentativer Ausdruck einer bestimmten Glaubensgemeinschaft“, streicht Navid Kermani heraus, „sondern notwendig Zeugnis eines einzelnen, der sich im Glauben oder Unglauben, im Zweifel oder in der Erkenntnis mit transzendenten Erfahrungen, Texten und Traditionen auseinandersetzt – selten zur Zufriedenheit derjenigen, die qua Ausbildung und Amt diese Religion vertreten.“ (Kermani 2011: 1120) Weiß der Deutsch-Iraner doch um die bleibende Spannung zwischen Kunst/Literatur und Religion:Man könnte die islamische Kultur, die Poesie, die Architektur, die Mystik, gerade durch den Widerspruch definieren, in dem sie zur sogenannten reinen Lehre steht – aber auch dadurch, dass dieser Widerspruch möglich ist und ausgehalten wird, genau wie in allen anderen Kulturen, nicht zuletzt der abendländischen: Man muss sich nur einmal in der Sixtinischen Kapelle umsehen, um staunend zu bewundern, welch scheinbar unchristliche Sinnenfreude und pralle Lüsternheit der Katholizismus nicht nur hinnimmt, sondern in sein eigenes Zentrum rückt. Genauso wie der Islam ist das Christentum immer auch das Gegenteil von dem, was diese oder jene Gelehrten als christlich definieren. (Kermani 2009: 18f.)
Fazit
Als provozierende Pointe sieht Ludmila Peters in der Thematisierung von Religion bei Patrick Roth, Benjamin Stein und Navid Kermani eine bewusste literarisch-ästhetische „Störung des dominanten säkularen Diskurses“ (Peters 2021: 362) am Werk. Das berührt sich mit Habermas’ postsäkularer Infragestellung des Säkularisierungs-Paradigmas. Ja, mit ihren positiven Gegensignalen zu antimuslimischen Negativstereotypen, ihren Evokationen hier und heute gelebten Muslimseins setzen Gegenwartsautor:innen einen postsäkularen Kontrapunkt zur lange tonangebenden Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Themen und entsprechender Transzendenzvergessenheit.
Versuchen wir ein knappes heuristisch-hermeneutisches Resümee: Für das Aufspüren und Einordnen zeitgenössischer Religionsdiskurse in literarischen Texten ist religionskomparative Kompetenz und (christliche, islamische und jüdische) theologische Expertise ebenso unerlässlich wie für die Erschließung religionsbezogener Anknüpfungen an Motiv- und Sprachimpulse der vielförmigen Welten des Islam – die „Transkulturalität der Religion“ lässt sich methodisch nur durch Interdisziplinarität erfassen. Die spezifische Herausforderung, „aus der Religion heraus über Religion zu sprechen“ (Graf, Kermani 2010: 208) und zu schreiben, bringt Navid Kermani pointiert auf den Punkt: „Religionen sind schroff, allein schon ihr Anspruch auf absolute Wahrheit ist an sich ein Skandal. Darin liegt eine Gefahr“ – deswegen bräuchten die Religionen einen säkularen Rahmen, „damit das, was der eine als absolut wahr betrachtet, nicht zur Unfreiheit des andern führt“ (Noormofidi, Wolkinger 2008). Zugleich aber müssten Religionen an ihrem Wahrheitsanspruch festhalten, sonst verfalle ihr Anliegen der Gleichgültigkeit. Alles komme darauf an, es kommunikabel zu machen: „darin läge zugleich auch heute die Kraft des offenbarten Wortes: dass es aus einer anderen Welt zu stammen scheint und nicht einfach sagt, was wir ohnehin denken.“ (Kermani 2009: 108)
Erschienen in: Laura Auteri u.a. (Hg.): Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive. Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik Bd. 9 (Jahrbuch für Internationale Germanistik Beihefte Bd. 9), Bern 2022, 43-52. Die Sektion „Transkulturalität der Religion in Prosatexten der Gegenwart“ wird herausgegeben von Chiara Conterno und Isabelle Stauffer.
Der Band ist als Print bzw. eBook erhältlich und Open Access abrufbar unter https://www.peterlang.com/document/1277912
Bibliografie
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Biskamp, Floris: Muslimische Identitäten im Konflikt. Identifikationsprozesse zwischen islamischem Diskurs und Islamdiskurs. In: Ines-Jacqueline Werkner, Oliver Hidalgo (Hg.): Religiöse Identitäten in politischen Konflikten. Wiesbaden 2016, 193–210.
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Gellner, Christoph: „Allah ist kein Ausländer“. Zur Präsenz des Islam in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 46 (2014), H. 2, Bern 2015, 25–46.
Gellner, Christoph: „…daß man tatsächlich etwas anderes sein kann als immer nur ich“. Religion und Eros in Navid Kermanis „Große Liebe“. In: Georg Langenhorst, Eva Willebrand (Hg.): Literatur auf Gottes Spuren. Religiöses Lernen mit literarischen Texten des 21. Jahrhunderts. Ostfildern 2017, 227–236.
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