Im Gegensatz zum Islam, dessen Präsenz in westlichen Gesellschaften immer neue Debatten über (Post-) Migration, Religion und Fundamentalismus auslöst, vollzieht sich die Begegnung mit östlich-asiatischer Spiritualität eher leise. Hinduistisch-buddhistische Religiosität und Mystik sind seit mehr als 100 Jahren als geistige Unterströmung in Europa wie auch den USA präsent. Gerade die literarisch „vermittelte“ Rezeption östlich-asiatischer Spiritualität – bei Hermann Hesse, Adolf Muschg und Marion Poschmann – lässt ihre Faszination im Westen anschaulich und lebendig werden.
Hermann Hesses (1877-1962) „Entwicklung vom strengen Christentum seines Elternhauses zu einer umfassenden, lebensbejahenden Spiritualität“ (Ezzelino von Wedel) macht ihn zu einem Vorläufer des zeitgenössischen Interesses an einer „Religion außerhalb, zwischen und über den Konfessionen“, für das Religionsmischungen ebenso charakteristisch sind wie ein transkonfessionelles Verständnis von Spiritualität als Verbunden- und Einssein.
Hermann Hesse: Kristallisationsfigur der Fernostfaszination
Dem Christentum durch den heillosen Moralismus seiner christlich-pietistischen Herkunft und Erziehung früh entfremdet, in den Religionen Indiens und Chinas dagegen schon früh heimisch geworden – Anregungen empfing Hesse bereits in seinem der Indienmission verbundenen Calwer Elternhaus –, suchte Hesse zeitlebens die Religion, die ihm entsprach: „In der frühen Jugend gelang es mir nicht, aus Trotz gegen Elterliches, innerhalb der religiös-geistigen Welt, in der ich aufwuchs, mich zu entwickeln, d. h. auf meine Art und ohne Verlust meiner Persönlichkeit ein Christ zu werden“, schreibt Hesse 1923 seinem Schriftstellerkollegen Stefan Zweig. „Schon sehr früh wandte ich mich indischen Studien zu, auch indischen Lebensmethoden, und fand innerhalb indischer und chinesischer Bildersprache meine Religion, d. h. die, die mir in Europa zu fehlen schien.“ Hermann Hesse wurde so für viele zum Brückenbauer und interreligiösen Vermittler zwischen Ost und West. Immer wieder neue Generationen von Hesse-Lesern kamen durch das Erzählwerk des Calwer Missionarssohns in Berührung mit östlicher Geistigkeit und asiatischer Spiritualität.
Dabei stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Hesse über theosophische Kreise das vedantische und buddhistische Indertum für sich entdeckte, ein vorrangig intellektuelles Interesse im Vordergrund. Man glaubte, dass es im Buddhismus keine Dogmen und keine Rituale gebe (wie im Kirchenchristentum, von dem man sich abgewandt hatte), man pries den Buddhismus als rationale Philosophie und einsichtsvolle Psychologie, die nicht ‚blinden Glauben‘ fordere, sondern allein auf Einsicht und Erkenntnis beruhe.
Hesses Enttäuschung über den Volksbuddhismus in Kandy in seinem Reisebuch Aus Indien (1913) belegt, wie stark die Buddhismusrezeption westlicher Gebildeter unter indologischen, ja, ideologischen Vorzeichen betrieben wurde. Als ‚reiner‘, unverfälschter Buddhismus galt ihnen, was sie aus übersetzten heiligen Texten und darstellender europäischer Literatur kannten, eine Art Urbuddhismus, die man nur in Büchern, kaum aber unter Menschen finden konnte, blendete man die Realität des gelebten Buddhismus in Asien doch völlig aus.
Die Reihe westlicher Missverständnisse und verzerrter Wahrnehmungen setzte ein, noch bevor es erste Buddhisten im deutschsprachigen Raum gab. So hat Schopenhauer, neben der Theosophie einer der entscheidenden Wegbereiter des Buddhismus im Abendland, mit dem Interesse an buddhistischem Gedankengut zugleich auch dessen pessimistisch-nihilistische Fehlinterpretation in die Welt gesetzt, die bis in die Gegenwart wirksam ist. „Meine damalige Philosophie war die eines erfolgreichen, aber müden und übersättigten Lebens“, resümiert Hesse später selbstkritisch, „ich fasste den ganzen Buddhismus als Resignation und Askese auf, als Flucht in Wunschlosigkeit, und blieb Jahre lang dabei stehen.“
Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre setzte eine zweite Phase der westlichen Buddhismusrezeption ein. Damals fanden „Vorträge und Bücher heutiger Zen-Buddhisten, obenan die von Suzuki, in Europa und Amerika größte Aufmerksamkeit“, beobachtete der 80-jährige Hesse. Ja, unter der anarchisch-pazifistischen beat generation Kaliforniens grassiere „leider schon so etwas wie eine Zen-Mode“, stellte Hesse anlässlich der Erstübersetzung des Zen-Klassikers Bi-yän-lu durch seinen ‚japanischen‘ Vetter Wilhelm Gundert (1880-1971) bedauernd fest.
Wie der Buddha in den Westen kam
Initiiert von Alan Watts (1915-1973) und Allen Ginsberg (1926-1997) erlangten asiatische Spiritualität und Esoterik, Meditation und Yoga, ja, verschiedenste Vermittlungen buddhistisch-hinduistisch-taoistischer Geistigkeit unter den Hippies, Blumenkindern und Indienfreaks der amerikanischen Jugend- und Alternativbewegung große Popularität. In den 1960er Jahren schlug diese gewaltlos-zivilisationskritische Rebellion gegen die etablierten Werte, Konventionen und Lebensformen der amerikanischen Gesellschaft schließlich um in einen von breiteren Gesellschaftsschichten getragenen Protest gegen die seelenlose Saturiertheit einer konsumistisch-kommerzialisierten Zivilisation des ‚american way of life‘, der sich angesichts der fortgeschrittenen technisch-industriellen Kriegsbarbarei in Hiroshima, Nagasaki und Vietnam bald zu einer grundsätzlichen Antikriegsbewegung entwickelte.
Im Sog dieser Abwendung von spießig-puritanischen Moralkonventionen und der Hinwendung zu mystischen Formen des religiösen Erlebens war Hesse eine für einen deutschsprachigen Schriftsteller einzigartig grenzüberschreitende ‚weltweite Wirkung‘ beschieden, zumal seine Gedanken aus dem ‚Morgenland‘ die Aufgeschlossenheit für östlich-asiatische Religionen und Techniken der Seel- und Körpersorge bestärkten. Als Gastdozent an der Cornell University in USA 1967–1969 wurde Adolf Muschg davon sichtlich überrascht, betrachtete er Hesses Rolle für die Jugend- und Studentenbewegung doch zunächst als „weltweiten Hör- und Übersetzungsfehler“… Siddhartha und Der Steppenwolf wurden kaum zufällig zu Kultbüchern der studentisch-antiautoritären Gegen-, Prostest- und Alternativbewegung Amerikas und bald auch Europas.
Nicht mehr der bis dahin vorherrschende denkerisch-kognitive Zugang, vielmehr der spirituelle Praxis- und Erfahrungsbezug des Buddhismus war nun entscheidend: Zen verdrängte die Theravada-Rezeption, die massgeblich durch die kongenialen Nach-Dichtungen der Lehrreden Gautama Buddhas des Wiener Indologen und bekennenden Buddhisten Karl Eugen Neumann (1865-1915) geprägt worden war, der nach dem Ersten Weltkrieg breite Wirkung gerade unter Künstlern entfaltet hatte. Hinzu kam, dass der Buddhismus seit den 1950er, 1960er Jahren nicht mehr nur für das weltanschaulich interessierte Bildungsbürgertum eine religiöse Alternative bildete, sondern zunehmend auch für jüngere Angehörige moderner Bildungsschichten sowie des alternativ-kulturellen Milieus. Statt der reinen Lehre steht jetzt seine ganzheitlich-praktische Umsetzung, ihre körperlich-spirituelle Erlebbarkeit im Vordergrund. Ja, die buddhistische Achtsamkeitsschulung wird in der Gegenwart oft gar nicht mehr mit Religion verknüpft.
Vom Ich zum Selbst, von der Identität zur Idemität
Ohne seine „Kehre“ vom asketischen Denken Indiens zur bejahenderen Weisheit Chinas hätte Hesse seine indische Dichtung Siddhartha (1922) nicht hätte vollenden können, die er von Anfang an in kritischer Konfrontation zur historischen Gestalt Siddhartha Gautamas, des Buddha, konzipiert hatte. Hesse musste sich erst von seiner resignativen „Indiensucht und Europaflucht“ lösen, seine vor allem durch Schopenhauer bestimmte weltflüchtig-weltverneinende Buddhismusschwärmerei überwinden, ehe er zu der für sein Denken und Schreiben fortan charakteristischen Synthese aus indisch-mystischer Weltsicht, chinesisch-taoistischer Lebenshaltung und moderner Tiefenpsychologie fand, die sich am Ende, überraschend genug, mit christlicher Liebesspiritualität verbindet.
Man wird die spirituelle Pointe des in Siddhartha gezeigten westöstlichen Bildungswegs nur verstehen, wenn man sieht: Veranschaulichte der Demian (1919) den konfliktreichen Prozess der Selbstbefreiung/Individuation, der von allem Kollektiven und Autoritativen weg zur Selbstfindung führt, so wollte Hesse in Siddhartha gewissermaßen die andere Seite desselben Kreises zur Darstellung bringen: die Überwindung der individuellen Ichbezogenheit und den Durchbruch ins Überindividuelle. Einen Entwicklungsweg vom ego-zentrischen Individualismus zu einer grenzenlos-empathischen Offenheit und Liebe zu allen Dingen und Wesen. Gewissermaßen den zweiten Teil jenes Weges zum wahren Menschen, der über die Emanzipation des Einzelnen aus allen von außen auferlegten Kollektivnormen zur Einordnung in das alles umgreifende, überpersönliche Ganze der Wirklichkeit führt.
Dass diese west-östliche Lebenskunst aus dem Grund mystischer Erfahrung gerade ein indischer Held verkörpert, ist nur folgerichtig. Ist doch die Lehre „vom Atman, vom Selbst im Ich“, „das Finden des Selbst und das Unterscheiden des (individuellen, egoistischen) Ich vom Selbst“ „der Inbegriff aller indischen Lehren“, wie Hesse anlässlich einer Neuübersetzung der Upanishaden herausstellt. Über Schopenhauer und Nietzsche (bei dem es heißt: „Das Selbst lacht über das kleine Ich“) wurde diese Vorstellung für Carl Gustav Jung wichtig in seinen Bemühungen, die Symbolik des Ostens in Begriffe zu übertragen, die mit den spirituellen und psychologischen Bedürfnissen des modernen Westens in Zusammenhang zu bringen sind .
Merkwürdig: Als seine „alte Aversion gegen die speziell christliche Form der Wahrheit allmählich nachließ“, so Hesse schon 1923, habe er „das Tiefste“ nicht mehr nur in „den Upanishaden, bei Buddha, bei Konfuzius und Lao Tse“ gefunden, sondern „auch im Neuen Testament“. So gipfelt Hesses Siddhartha in einem Bekenntnis zur Liebe zu allen Dingen und Wesen, die in der Erfahrung der Verbundenheit alles Seienden gründet: „Mögen die Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin alsdann ja Schein, und so sind sie stets meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und verehrungswert macht: sie sind meinesgleichen. Und dies ist nun eine Lehre, über welche du lachen wirst: die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können.“
Hesse sah daher im christlichen Liebesgebot (Lev 19,18; Mt 22,39) nicht länger eine von außen auferlegte Sollensforderung: „Asiatisch“, im Sinn der indisch-mystischen Einheitserfahrung der Upanishaden und der Bhagavadgita lautet dieses Bibelwort: „Liebe den Nächsten, denn er ist du selbst!, eine christliche Übersetzung des ‚tat twam asi’“. Dieser große mystische Satz der Upanishaden bringt zum Ausdruck: Was den Grund meiner selbst und den Grund der Anderen ausmacht, ist letztlich identisch – so wie einzelne Flüsse im Meer sich in ihrer Individualität vom Wasser des Meeres nicht mehr unterscheiden und doch im Ganzen des Meeres zu sich selbst kommen. Eine solche verwandelnde „Transego-Erfahrung, die spirituelle Erfahrung eines überindividuellen ‚Selbst‘ ‚hinter‘, ‚vor‘, ‚unter‘ oder ‚jenseits‘ jedes Ich, vermag das solidarische Mit-Sein in der Tat tiefer zu begründen als alle Imperative, Gebote und Verbote. Verwurzelt sie das Ich doch im einen-allumfassenden Ganzheitsgrund – aus der erlebten Verbundenheit von jedem mit jedem folgt die liebende Zuwendung, echtes Mitgefühl für und echte Anteilnahme an Anderen, kosmische Solidarität.
Darum also geht es: Um die Grundverbundenheit mit dem Ganzen der Wirklichkeit, die Erfahrung eines nichtegoistischen Einheitsbewusstseins, die jene alles durchdringende Sympathie allen Dingen und Wesen gegenüber ermöglicht, die Voraussetzung jeder konkreten Nächstenliebe ist. Es ist dies eine Form positiver Selbstfindung, die befreit von allem verkrampften Machenmüssen, allem moralischen Perfektionsstreben und der verzweifelten Anstrengung des Sich-selber-Durchsetzen-müssens jene Liebe und Gelassenheit gewinnen lässt, aus der das rechte Handeln wie ‚von selbst‘, spontan, ohne von außen auferlegte Sollensforderungen daraus folgt, dass jeder Mitmensch, ja, alle Lebewesen „meinesgleichen“ sind. Hesse fand dies am tiefsten in dem großen mystischen Satz der Upanishaden ‘tat twam asi’ ausgedrückt: die Erfahrung, dass „mir jeder Mitmensch als eine Gestalt meiner selbst begegnet“, was Heinrich Rombach in seiner Strukturanthropologie als „Idemität“ bezeichnet.
Ja, darin dürften östlich-asiatische Weisheit, biblisches Christentum und Jungsche Ganzheitspsychologie, darin dürfte das Lebenswissen der großen spirituellen Traditionen übereinstimmen: Erst der von der Verhaftung an die Welt und der Egozentrik des empirischen Ich zum wahren Selbst, zur Grundverbundenheit mit dem Ganzen der Wirklichkeit befreite Mensch vermag seine sittliche Verantwortung voll wahrzunehmen.
Adolf Muschgs west-östlicher Brückenschlag
„Das habe ich bei den Buddhisten gelernt, wie sehr das einzelne – und wenn es nur ein Bambusblatt ist – ein Ganzes repräsentiert“, bekannte Adolf Muschg (*1934) im Interview mit einer Anthroposophenzeitschrift 2004. „Das finde ich außerhalb der buddhistischen Kultur am ehesten bei Goethe: dass das Phänomen mehr gilt als die Idee.“ Selbstkritisch setzte Muschg hinzu: „Ich bin ja leider nur ein wenig Buddhismus praktizierender Mensch. Es ist mehr eine Sehnsucht denn eine Praxis bei mir.“ 1962 bis 1964 war Muschg Deutschlektor an der International Christian University in Tokyo und unterzog sich einer praktischen Einführung in die zen-buddhistische Sitzmeditation sowie das Koan-Training mithilfe des Mumonkan, der bekanntesten Koan-Sammlungen neben dem Bi-yän-lu.
Aus Muschgs Denken und Schreiben ist seine intensive Beschäftigung mit Japan und dem Zen-Buddhismus – angefangen bei seinem Debutroman Im Sommer des Hasen (1965) bis hin zu Eikan, du bist spät (2005), Löwenstern (2012) und Die japanische Tasche (2015) sowie Heimkehr nach Fukushima (2018), stets begleitet von reflektierenden Japan-Essays und -Betrachtungen wie Papierwände (1970) oder Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat (1995) – nicht wegzudenken. Der Schweizer Autor ist viele Male in Japan sowie in China gewesen – davon zeugt sein Roman Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft (1980) –, mit einer Japanerin verheiratet und gilt weit über die Eidgenossenschaft hinaus als Japan-Experte.
Trefflich wird in Muschgs Erstlingsroman Im Sommer des Hasen anhand der tragikomischen Figur des Zen-Enthusiasten Adalbert Huhn die bis in die Gegenwart reichende trendig-oberflächliche Wichtigtuerei satorisüchtiger Abendländer persifliert, die vom Buddhismus lediglich über literarisch-intellektuelle Kenntnis aus zweiter Hand verfügen. Vor der bloßen Buchgelehrsamkeit solcher Zen-Alleswisser warnt bereits die Zen-Überlieferung selbst.
Schon von der Schweiz aus hatte Huhn mit einem Schüler des bekannten Zen-Meisters Daisetz Suzuki (1870-1966) Kontakt aufgenommen. So fühlte sich Huhn bestens in den Zen-Buddhismus eingeführt, ehe er japanischen Boden betreten, ja, noch ehe er sich seiner harten und strengen Übungspraxis unterworfen hatte. Die „einfachen Dinge des Zen, Sitzen, Atmen“, genügen diesem aufgeblähten Schwarmgeist nicht, obwohl sie doch die Hauptsache auf dem Zen-Weg sind. Dass auch sie letztlich überflüssig sind, kann nur einer sagen, der dies selber praktiziert und erfahren hat.
Bei seiner Begegnung mit dem Abt des berühmten Zuiganji-Klosters in Matsushima weiß Huhn „dem herzlich nickenden alten Mann das Tiefste und Paradoxeste“ darzulegen. Sein exzentrisches Gerede stößt jedoch auf unüberwindbare Verständigungsschwierigkeiten, wodurch es nur noch mehr der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Seine angelesenen Bücherweisheiten lässt Huhn von einem Düngerreisenden übersetzen, der davon „so gut wie nichts“ versteht. Der Zen-Meister, der sich angeregt mit dem Düngermann über dessen Lebensumstände und über Dünger unterhält, lässt Huhn ausrichten: „He ist happy you are such a good thinking man.“ Die „schalkhaften Segnungen des Zen-Buddhismus“, damals bereits „ein Snobismus von vorgestern“, so Muschgs spöttischer Erzählerkommentar, blieben Huhn verschlossen. Er war einfach „nicht der Held, dem einmal Erlösung blühen konnte“.
Dass der Zen-Buddhismus, mit dem Muschg bereits während seines Studiums in Zürich in Berührung gekommen war, als er sich nicht von ungefähr Hesses ‘Morgenlandfahrern’ zuzählte, für ihn selber weit mehr bedeutet als nur ein poetisch reizvolles Sujet, ist schon seinen 1963 in der NZZ veröffentlichten, überaus sachkundigen Japanischen Silhouetten zu entnehmen. Unter den zahlreichen westlichen Zen-Büchern empfiehlt Muschg besonders Alan Watts‘ The Way of Zen (1957), der zu Recht das Prärogativ der Erfahrung vor der Lehre betone: „diese müsse aus jener herausreifen, um rechtmäßig erworben zu sein, und ist durch keinerlei intellektuellen Kurzschluss zu erreichen“.
Im Weiteren schildert er die Begegnung mit dem angesehenen japanischen Zen-Gelehrten Shin-ichi Hisamatsu (1889-1980), der für Muschg wichtig wurde, als er einen dezidierten buddhistischen A-theismus vertrat: Ein allzu menschlich, theistisch, ja, ‘gegenständlich’ vorgestellter Gott in christlicher oder amidabuddhistischer Prägung sei Illusion oder Projektion. Hisamatsus Neuinterpretation des Buddhismus als pointiert a-theistische Religion ist wie seine Kritik des christlichen Theismus für Muschgs Zugang zum Zen-Buddhismus von kaum zu unterschätzender Bedeutung! Darüber hinaus verfasste Muschg ein aufschlussreiches Portrait des 93-jährigen Daisetz Suzuki.
Aussteigen? Einsteigen!
Aufs Ganze kann man von einem west-östlichen Brückenschlag, ja, von einem literarisch komplexen Fall geistig-spiritueller Osmose sprechen, ohne dass Muschg dazu den exotischen Oberflächenreiz fernöstlicher Kulissen erzählerisch eigens bemühen muss. Ja, bei aller entschiedenen Kirchen- und Christentumskritik zeichnet sich Muschgs Denken und Schreiben durch eine eigentümliche Verbindung von Zen-Buddhismus und einem mystischen Christentum Meister Eckhartscher Prägung aus – nicht von ungefähr gab der 29-jährige Deutschlektor 1963 in Tokyo seine „geistige Visitenkarte“ mit einem Vortrag über Meister Eckhart ab –, Goethes der Natur abgelauschtes Ganzheitsdenken bildet den über die Jahre immer wichtiger gewordenen dritten Bezugspunkt.
Nirgends wird dies deutlicher als in seinem opus magnum Der Rote Ritter (1993), einer zeitgenössischen Neuerzählung des Parzival von Wolfram von Eschenbach aus dem 13. Jahrhundert, der seinerseits eine vorhandene Geschichte einer eigensinnigen Umdichtung unterzog. Indem er einen bedeutenden religiösen Roman des Mittelalters für unsere Zeit neu erzählt, stellt Muschgs Roter Ritter ein kunstreiches literarisch-theologisches Erzählspiel dar. Muschg wird nicht müde, die exemplarische Ambivalenz und Mehrsinnigkeit von Wolframs Parzival zu rühmen, seinen jeder Eindeutigkeit spottenden Spielwitz und Humor, die strukturelle Ironie und lachende Weisheit seiner Romankomposition, die ihm diesen Stoff ans Herz wachsen ließ. Viel wichtiger als das reine, weiße Licht sei diesem „Spielmeister der ganz großen, humanen Komposition“ das durch die Widersprüche unserer Menschenexistenz farbig gebrochene! Ja, bis zuletzt erscheinen bei Wolfram Helles und Dunkles gemischt, durchdringt sich beides zur bunten Vielfalt.
Im Geist des Zen preist Muschg Wolframs „Modernität“, seine bis zur Komplementarität von Gut und Böse getriebene „listig-kühne Überwindung ‘binären’ Denkens“. Im Gespräch mit Meinrad Schmidt-Degenhard verdeutlichte Muschg: „Parzival ist ein Ritter, zugleich lernt er, dass Normen nur erfüllbar sind, wenn man ihnen zuwiderhandelt. Das ist für mich die Zen-Dimension dieses Romans. Diese Doppelkonstruktion in Wolframs mittelalterlichem Roman aufzudecken, sie dem Stoff aber auch sichtbar einzuschreiben, das war der Hauptspaß an diesem Buch.“ Ausdrücklich bekannte Muschg , dass es seine Parzival-Romanversion ohne die japanischen Zen-Meister Suzuki Taisetz, Hisamatsu Shin-ichi und Harada Sekkei „nicht gäbe“. Bei Roshi Sekkei Harada unterzog sich Adolf Muschg im Mai 1985 einem mehrwöchigen Zen-Schnupperkurs in einem ländlichen Zen-Kloster nördlich von Kyoto. Muschg berichtete darüber im Feuilleton der Frankfurter Rundschau unter dem pointierten Titel: Aussteigen? Einsteigen! Sein Fazit:
Im Zen-Kloster gibt es wohl das gemeinschaftliche Sutra-Lesen, das Händefalten nicht nur zum Tischgebet, sondern auch beim Empfang jeder einzelnen Speise, es gibt natürlich die Erfahrungen, die wir auf unserer Seite der Welt ‘religiös’ zu nennen pflegen. Aber es gibt ausdrücklich keinen Gottesdienst, sowenig wie es einen Sonntag und Werktag gibt. Arbeitstag und Feiertag sind ebenso dasselbe wie Meditation und Arbeit. Wenn Beten und Essen, Zähneputzen und Betteln, Reden und Nicht-Reden nicht aus einem Geist geschehen, geschieht keins von beiden recht. Muss man Religion nennen, was nichts anderes ist als höchste Lebensart, Aufmerksamkeit für den Nächsten und für das Nächste, Anwesenheit dessen, was ich bin, in dem, was ich tue, nicht morgen, nicht jenseits, sondern hier und jetzt? […] Ich habe im Kloster erlebt, dass Leben mit sich eins sein kann […] Ein innerliches Geschäft? Ganz im Gegenteil. Und dann: warum eigentlich ‘im Gegenteil’?
Nicht von ungefähr trägt Trevrizent, Parzivals wichtigster ‘Lese- und Lebemeister’, bei Muschg Züge eines Zen-Meisters, der gedanklich ganz nahe bei Meister Eckhart steht. Bei ihrem ersten Kontakt begegnet Parzival in Trevrizents Augen „dem leeren Blick“, betrachtet ihn der Einsiedler doch mit Augen, die „nicht blickten, nur offen waren“. Sie schienen „dafür aufgetan, unbewegt hereinzulassen, was sie sahen, ohne es durch die Zugabe eines Urteils zu färben“. Am Ende (IV.19) werden beide im Flash einer nahezu lehrbuchhaften Erleuchtung von einem Lachen schwebender Heiterkeit erschüttert …
Leben ohne Warum
Kaum zufällig wählte Muschg bei Lesungen aus seiner Parzival-Neuerzählung Der Rote Ritter die Passage aus, in der Trevrizent im Karfreitagsgespräch mit Parzival den für die Romantheologie des Roten Ritter zentralen Spielgedanken einführt, der als Schlüssel für das Ganze der Schöpfung dient und auf Meister Eckhart zurückgeht, dem alles darauf ankam, „dass der Mensch mitwirken lerne an seinem Gott“ . „Gott versucht sein Spiel mit uns. Er will wissen, ob wir als Mitspieler in Frage kommen, und diese Neugier Gottes ist der Stoff, aus dem unsere Erfahrungen sich machen; was für ein Glück, dass sie sich offenbar nicht machen wollen ohne uns“, nimmt Parzival im Schlussgespräch mit Gawan diesen Gedanken nochmals auf.
Die spirituelle Pointe von Muschgs Parzival-Neuerzählung liegt denn auch in der wohltuend-befreienden Erfahrung einer letzten Zweck- und Grundlosigkeit alles Daseins, die Meister Eckharts ‘Leben ohne Warum’ mit dem Zen-Buddhismus verbindet. Das Gutsein der Welt besteht nicht darin, dass sie für bzw. zu etwas gut ist. Ihr grundloses Dasein trägt seinen ‘Zweck’ vielmehr in sich selbst: allen Zweck- und Zielbestimmungen enthoben, ist sind wir Menschen so buchstäblich ins eigene Dasein freigelassen!
In einem Zürcher ETH-Vortrag erläuterte Muschg, dass der Mensch – wie die Kunst – zweckfrei ohne alles ‘Um-zu’ existiert und darum keiner Rechtfertigung bedarf: „Nur im Spiel empfinden wir uns der Schöpfung verwandt, deren Teil wir sind, und nehmen teil an dem Impuls, der sie geschaffen hat. Er darf grundlos gewesen sein und ohne Zweck.“ Gerade im Spiel zeigt sich, dass unser Leben wie die gesamte Schöpfungsveranstaltung keinen Grund braucht, vielmehr ohne ein letztes Worumwillen, ohne alles ‘Um-zu’ existiert. Meister Eckhart spricht gern von diesem ohne Worumwillen als Kunst des Lebens: „Ich lebe darum, dass ich lebe.“
Häufig verweist Muschg auch auf Angelus Silesius: „Die Rose blüht, wie auch unsere Mystiker wussten, weil sie blüht, ohne Warum. Sie hat keinen Grund. Und darin ist sie ihrem Betrachter verwandt.“ „So gesehen ist weder ‘Spiel’ als Zerstreuung oder als Unterbrechung der Arbeit wahres Spiel, noch der vom Spiel unterschiedene Ernst der ‘Arbeit’ wahrer Ernst“, betont der zenbuddhistische Philosoph Keiji Nishitani (1900-1990) unter Verweis auf Meister Eckharts ‘Leben ohne Warum’ in seinem bekannten Hauptwerk Was ist Religion?
Marion Poschmanns Anstiftung zur Kontemplation
Marion Poschmann (*1969), erste Trägerin des Deutschen Preises für Nature Writing 2017, fasziniert an der japanischen Ästhetik, dass Kunst, Natur und Spiritualität keine getrennten Bereiche sind, Literatur als eigener Kontemplationsweg gilt. In ihrem Japan-Roman Die Kieferninseln (2017) lässt sie den deutschen Intellektuellen Gilbert Silvester auf den Spuren des berühmten Wanderpoeten, Haiku-Dichters und Zen-Meisters Matsuo Bashō (1644–1694) zu den Kieferninseln in der Bucht von Matsushima aufbrechen: „Konsequente Fußmärsche. Einfachste Quartiere. Verzicht auf technische Hilfsmittel, allem voran Mobiltelefone. Erst dann erreichte man eine Haltung, die es erlauben würde, zu jenem gestrengen Über-Ich auf Distanz zu gehen, das jeden von ihnen im Alltag unter Kontrolle zu halten suchte. Eine Haltung der Souveränität und Bedürfnislosigkeit, die es schließlich erlauben würde, sich ohne große Vorbehalte anderen Dingen zuzuwenden. Dem Innenleben. Den Kiefern.“
Das vorangestellte Motto Matsuo Bashōs: „Wenn du etwas über die Kiefer lernen willst, begib dich zur Kiefer. Und wenn du so tust, mußt du deine persönlichen Interessen an dir selbst aufgeben, denn sonst drängst du dich dem Gegenstande auf und wirst nichts lernen“ wird zum Lernprogramm von Gilberts Pilgerreise: die ichbezogene Habens-, Strebens- und Wollens-Struktur menschlichen Daseins durchbrechen, um Freizuwerden zu einer durch nichts verstellten Offenheit, die alles Ich-hafte, alle Vorstellungen des Unterschiedenseins, ja, alle selbstgesetzten Zwecke, Ziele oder Antreiber hinter sich lässt. Diese Befreiung von innen umschreiben Zenbuddhisten mit ‘Grundlosigkeit’, ‘Leere’ und ‘Nicht-Ich’. Das meint keinen Nihilismus, vielmehr eine Bewegung der Ent-Grenzung und Ent-Eignung: jedes isolierte Für-sich wird entschränkt in eine absichts- und interesselose In-Differenz allseitiger Bezogenheit.
Gilbert trifft auf einen Selbstmörder namens Yosa Tamagotchi, der mit dem in Japan so populären Complete Manual of Suicide unterwegs ist. Er kann den vom Prüfungsdruck gestressten Suizidkandidaten gerade noch davon abhalten, sich vor einen fahrenden Hochgeschwindigkeitszug zu werfen. Stattdessen soll er ihm auf seiner Pilgerfahrt zu den Kieferninseln assistieren, schon Basho hatte einen Weggenossen namens Sora. „Der äußere Selbstmord“, gibt Gilbert Yosa zu bedenken, „und der innere Selbstmord sind miteinander gar nicht zu vergleichen. Basho strebte den inneren Selbstmord an, er wollte sein Ego loswerden, um frei zu sein für die Dichtung. Auch dies kann man für unnötigen Extremismus halten, aber es wäre das weit interessantere Experiment.“
Gilbert überlegt, ob Bashōs Reisebuch Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland als eine „mentale Exkursion“ ins „menschliche Innere“ gelesen werden könne. So ergibt sich eine weitere christlich-abendländische Analogie: „In seinem Itinerarium mentis in Deum (Pilgerbuch der Seele zu Gott, 1259) beschreibt Bonaventura „den Stufenweg der Seele zu Gott“. Es handle sich dabei jedoch „weniger um einen Reisebericht als um eine diffizile Anleitung zur Kontemplation. Wie im Zen-Buddhismus eine regelgeleitete, didaktisch motivierte Meditationspraxis geübt wird, die das Ziel hat, nicht nur Ausgeglichenheit und Wohlverhalten zu fördern, sondern den Adepten tatsächlich zur Erleuchtung zu führen, gipfelt auch die Methode Bonaventuras in der mystischen Vereinigung“. Unüberhörbar wird Gilbert zum Sprachrohr der Autorin Marion Poschmann: „Bonaventura findet Gott in den Dingen und durch die Dinge, Bashō hingegen findet die Dinge in und durch Gott. Und wir, die wir den Innenraum nicht einmal kennen, können nicht wissen, ob in den entgegengesetzten Herangehensweisen letztendlich ein Unterschied liegt oder nicht.“
In ihrem Essayband Mondbetrachtung in mondloser Nacht (2016) schildert Marion Poschmann anhand ihres Besuchs des berühmten Steingartens des Tempels Ryoan-ji in Kyoto „Merkmale der Zenkunst“. „Der Übergang von der alltäglichen äußeren Welt in den spirituellen Bezirk der inneren Tempelanlage“ wird unmittelbar erfahrbar, wenn sie beschreibt, wie ihre hektischen Schritte langsamer werden: „innerhalb kürzester Zeit habe ich mich von einer Person, die ein Ziel erreichen will, in jemand verwandelt, der sich dem Lauf der Dinge überläßt.“ Gefragt ist in der Tat „die Kunst der subtilen Betrachtung“, die von einem in der japanischen Spiritualität vielfach kultivierten unpersönlichen Blick lebt, der vom Ich absieht, um für die Dinge und Erscheinungen wirklich frei zu werden.
Dazu scheint am Ende auch Gilbert zu finden, dass er sich von einer Person, die ein Ziel erreichen will, in jemand verwandelt, der sich in selbstvergessen-gelassener Acht- und Aufmerksamkeit ganz der kontemplativen Betrachtung des Herbstlaubs überlässt. „Undenkbar in Deutschland, daß man sich irgendwohin auf den Weg machte wegen eines einfachen Baums, wegen Blättern!“ Ja, am Ende hat Gilbert diese „vollkommen nutzlose Sitte“ so sehr verinnerlicht, dass er sich vorstellt, eine vor Jahren mit seiner Frau unternommene, gescheiterte Reise zur Laubfärbung in Nordamerika zu wiederholen: „Laubfärbung ist reine Gegenwart“. Damals fand Gilbert solche Trips in abgelegene Wälder absurd, nun wünscht er sich nichts sehnlicher als zu zweit diese Naturerscheinungen zu betrachten: „Mathilda, Liebste, würde er sagen […] komm zu mir nach Japan. Die Laubfärbung beginnt.“
Nachweise sowie Hinweise zur Vertiefung:
Christoph Gellner: Hermann Hesse und die Spiritualität des Ostens. Düsseldorf 2005; ders.: Wie der Buddha in den Westen kam. Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg, in: Hermann-Hesse-Jahrbuch Band 3, Tübingen 2007, 47–69; ders.: Westöstlicher Brückenschlag. Literatur, Religion und Lebenskunst bei Adolf Muschg, Zürich 2010; ders.: „… nach oben offen“. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile, Ostfildern 2013 (u.a. zu Herrmann Hesse, Adolf Muschg, Ralf Rothmann und Christoph Peters); ders.: Buddhismus im Westen. Literarische Spiegelungen bei Hermann Hesse, Adolf Muschg, Ralf Rothmann und Christoph Peters, in: Wunderliche Theologie – Konstellationen von Literatur und Religion im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Ulrich Weber u. Andreas Mauz, Göttingen/Zürich 2016, 161-187; ders.: Einzigartiger west-östlicher Brückenschlag. Laudatio zur Preisverleihung der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft an Adolf Muschg, in: Hermann-Hesse-Jahrbuch Band 10, Würzburg 2018, 223-233; ders.: Reise nach Innen. Marion Poschmanns Japan-Roman «Die Kieferninseln», auf feinschwarz.net 4. August 2019 www.feinschwarz.net/reise-nach-innen/